Ein ganz normales Genie

Den Lehrstuhl hat er aufgegeben, die E-Mail-Adresse gelöscht, und besuchen darf ihn nur, wer mit ihm vierhändig die Kirchenorgel spielen kann. Donald Knuth opfert alles dem Werk, das er vor vierzig Jahren zu schreiben begonnen hat: die Bibel der Computerwissenschaften.


Von Peter Haffner


Er fällt auf im Kreis der Kirchgänger, die dem Gotteshaus der First Lutheran Church an der Homer Avenue in Palo Alto zustreben, einer kleinen, hellbraun gestrichenen Kirche in einem der stillen, pastoral anmutenden Wohnviertel von «Stanford Town». Doch nur deswegen, weil er die meisten um mehr als einen Kopf überragt. Denn wer ihn dann sieht, wie er, den Oberkörper in Demut gebeugt, seine Gebete verrichtet, würde nie vermuten, dass dies erst recht im übertragenen Sinne gilt: Donald Knuth, eines der treuesten Mitglieder von Pastor Segerhammars Gemeinde, ist der Guru der Computerwissenschaft. Er ist der Mann, um den sich Legenden ranken nicht erst seit dem Tag, an dem er sich aus der Welt zurückzog, sein Werk zu vollenden - «The Art of Computer Programming», so etwas wie die Bibel der Branche.

Für das Opus magnum, das er selbst nur TAOCP nennt und dessen letzter Band, so Gott will, in einem der nächsten Jahrzehnte erscheinen soll, hat Knuth die höchsten Auszeichnungen erhalten - den Turing Award, die National Medal of Science und den Kyoto-Preis, an Bedeutung dem Nobelpreis gleich. Und obwohl unvollendet, wird «The Art of Computer Programming» bereits zu den zwölf einflussreichsten Wissenschaftsbüchern des zwanzigsten Jahrhunderts gezählt - zusammen mit Paul Diracs «Quantum Mechanics», Albert Einsteins «Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie» und den «Principia Mathematica» von Bertrand Russell und Alfred North Whitehead.

Die Feiern zu Verleihungen von Preisen und Ehrendoktoraten rund um den Globus sind, neben dem sonntäglichen Gottesdienst im Universitätsstädtchen im Herzen des Silicon Valley, nahezu die einzigen Gelegenheiten, Professor Knuth in der Öffentlichkeit zu sehen. Vorzeitig emeritiert, übernimmt er keine Verpflichtungen mehr, gibt keine Interviews. Das Büro des «Professor Emeritus of the Art of Computer Programming» im Computer Science Department der Universität, noch übervoll mit Büchern und Papieren, ist verwaist. Maggie, seine Sekretärin, eine beeindruckende, in feuerrote Seide gehüllte Erscheinung, hält da Wache, besorgt, ihm alles vom Leib zu halten, was ihn in seiner Konzentration stören könnte. Donald Knuth arbeitet zu Hause, abgeschirmt auch da - nur der Name seiner Frau Jill steht im Telefonbuch.

Wann immer in der Computergemeinde die Rede auf Donald Knuth kommt, werden Anekdoten herumgeboten, in deren Pointe eine Prise von feierlichem Ernst liegt. Selbst die jungen Cracks, die längst mit anderem beschäftigt sind als mit den fundamentalen Algorithmen und formalen mathematischen Beweisführungen, für die Knuth berühmt geworden ist, zollen dem Doyen Respekt. Auch wenn sie dann lieber von dem reden, was jetzt hip ist - «Object Orientation», «Pair Programming», «Extreme Programming» und dergleichen mehr.

Jason Brazile etwa, ein junger Amerikaner, der seinen Arbeitsplatz im Loft einer jener Softwarefirmen hat, deren Geschäftsleitung kaum älter ist als ihre Lehrlinge, gibt die Geschichte von einem der ersten Programme zum Besten, das Knuth noch als Schüler schrieb. Es erlaubte, die Leistungen der Basketballspieler seines College auf Grund verschiedener Kriterien zu bewerten, wurde erprobt auf einer IBM 650 und brachte dem Team den Titelgewinn. Und den jungen Autor in die Spalten von «Newsweek». «Knuth kann irgendetwas von der Strasse auflesen und Mathematik daraus machen», resümiert der Schweizer Erich Gamma, der, eben erst vierzigjährig, selbst zum «Software Pioneer» gekürt worden ist, zusammen mit Altmeistern wie Niklaus Wirth, Edsger Dijkstra und C. A. R. Hoare. Für Gammas Generation ist Knuth ein Monument, an dem vorbei man seine eigenen Wege geht.

Und doch, wer die Gelegenheit hat, möchte sie nicht verpassen. Einmal im Monat, wenn's geht, gibt Knuth in Stanford eine Vorlesung, und das Publikum strömt in Scharen zu diesen «Computer Musings», einer Art von amuse-gueule für mathematische Feinschmecker. «Totally Acyclic Digraphs (Spiders) and how to squish them» heisst das Thema der achten «Christmas tree lecture», über das Knuth an diesem 6. Dezember 2001, einem klaren, sonnigen kalifornischen Wintertag, im Hörsaal des Gates Building spricht. Doch was heisst da sprechen: Er stammelt, stottert, wiederholt sich, korrigiert sich, kritzelt und krakelt auf den linierten Schreibblock, der vor ihm liegt und auf eine Leinwand projiziert wird. Auf der ist, überlebensgross, nur seine Hand, der Filzschreiber und das, was er notiert, zu sehen - Nullen und Einsen, X und Pfeile, die mit Befehlen wie «while», «change», «false», «return true» und «return false» in Reih und Glied gebracht werden.

Bald schon findet sich der Dozent in dem Papierwirrwarr nicht mehr zurecht, streicht sich die spärlichen Haare über die Glatze, blickt hilfesuchend ins Leere. Was dem Laien alles etwas seltsam vorkommt, bis er realisiert, dass er hier nicht Konsument eines Produkts, sondern Zeuge eines Denkvorgangs ist. Gebannt lauschen denn auch die Studenten, runzeln angestrengt die Stirn, lachen und rufen, hat er einen Fehler gemacht, ungeniert dazwischen. Was Donald Knuth nie zu verdanken vergisst.

Nach eineinviertel Stunden ist er erschöpft. Das Publikum steht Schlange, um sich die ersten drei Bände von «The Art of Computer Programming» signieren zu lassen, auf deren Fortsetzung man nun schon seit bald drei Jahrzehnten wartet. Weshalb Knuth, in Bluejeans, über den grauen Rollkragenpullover auch das hellgelbe T-Shirt gestreift hat, das, wie er eingangs bemerkt, seine Frau ihm vor Jahren schneiderte: Reklame für Band vier. «Das ist eine grosse Ehre für mich», sagt mit einer tiefen Verbeugung der japanische Student, der neben Knuths gesammelten Werken eine Videokamera mitgebracht hat, um die Begegnung mit dem Meister filmisch festzuhalten. «Sie kennen mich doch nicht!», sagt der mit einem milden Lächeln, während er geduldig seinen Namen in die Bücher schreibt.

Es war Maggie, Knuths Sekretärin, die die Türe schliesslich geöffnet und ein Gespräch ermöglicht hat. Dass der Eremit trotz der Firewall, die er um sich aufgebaut hat, weder ein Autist noch ein idiot savant ist, war zu vermuten. Auf seiner Homepage figurieren unter den FAQs nicht nur Antworten auf Fragen wie die nach dem Erscheinungsdatum von Band vier von TAOCP, sondern auch, woher er die coole Brille hat und wie man die Bücher seiner Gattin bestellt. Und so akkurat wie über Wissenschaftliches wird man über die Geburt eines Enkels, den Tod einer Tante oder die Tatsache informiert, dass Knuth nun seit exakt vierzig Jahren mit ein und derselben Frau glücklich verheiratet ist.

Donald Knuth ist ein umgänglicher Mensch, der auch in Gesellschaft dem Prinzip huldigt, das er über sein Leben gestellt hat: dass man, was immer man tun will, mit höchster Konzentration tun soll. Und dass man, wo dies nicht möglich ist, es lieber gleich ganz bleiben lässt. «Wir Computerwissenschafter», sagt er, «nennen das batch processing, Stapelverarbeitung. Genauso arbeite ich: immer eines nach dem anderen.»

Zwei Stunden pro Tag verbringt er in der Bibliothek, alle vier Monate reserviert er sich eine Woche, um die 35 abonnierten Fachzeitschriften durchzusehen, vierteljährlich einen Tag, die eingegangene Post zu beantworten, und halbjährlich einen, wenn überhaupt, für die eingetroffenen Faxe. Und Tag für Tag freut er sich, dass er seit 1990 keine E-Mail-Adresse mehr hat - nicht ohne andere auf seiner Website zu mahnen, sich doch endlich den Bindestrich zu schenken und Email zu schreiben. Wie viel Lebens- und damit Arbeitszeit das sparte! Die Unbeirrtheit hat etwas Antikisches. 1962 hat Knuth das Werk, mit dem er Computergeschichte schreibt, begonnen. Damals noch Student am California Institute of Technology, hatte er einen Ruf als whiz kid, weshalb ihn der Verlag Addison Wesley fragte, ob er nicht ein Buch über Compiler schreiben wolle, über Programme, die eine menschennahe Programmiersprache in Maschinensprache übersetzen. Vier Jahre später, er war noch keine dreissig, hatte er 3000 Seiten von Hand zu Papier gebracht. «Ich dachte, das würde etwa 700 Buchseiten ergeben, aber der Verleger sagte, das ergebe genau 3000, also entschieden wir uns, die ganze Sache auszuweiten und in sieben Bänden herauszugeben.»

Noch gilt der Plan. Band vier, den er jetzt in Faszikeln veröffentlicht, soll 2007 fertig sein und rund 2000 Seiten umfassen, dann wird Band fünf drankommen, während er gleichzeitig die Bände eins bis drei überarbeitet und aktualisiert, worauf er beabsichtigt, eine Kurzfassung der Bände eins bis fünf zu publizieren, bevor er sich dann an die Bände sechs und sieben macht, die er, wie er meint, schreibt, «wenn das, was ich zu den betreffenden Themen zu sagen habe, noch relevant sein wird und von niemand anderem gesagt worden ist».

Das Talent, sich in der Welt der Ziffern und Zeichen zu bewegen, zeigte sich so früh wie die Hartnäckigkeit, ein einmal gestecktes Ziel zu verfolgen. Im achten Schuljahr beteiligte er sich an einem Wettbewerb, den ein Süsswarenfabrikant ausgeschrieben hatte; es ging darum, wer am meisten Wörter aus den Buchstaben des Produktenamens «Ziegler's Giant Bar» bilden konnte. Der kleine Knuth legte eine Liste von 4500 Wörtern vor - 2000 mehr, als die Jury hatte -, gewann den ersten Preis, einen Fernseher, sowie genug Schokoriegel, die ganze Schule zu versorgen.

1956, im Alter von achtzehn Jahren, begegnete er, noch vor seinem ersten Mädchen, erstmals einem Computer. Der Transistor war erfunden, die zweite Generation von Rechnern erblickte eben das Licht der Welt, und universelle Sprachen wie Fortran und Cobol begannen die Maschinensprachen abzulösen. Knuth brachte sich das Handwerk selber bei und war darin, wie er rasch erkannte, einiges besser als die Verfasser der Handbücher, die mit den Maschinen geliefert wurden.

«Computerwissenschaft hat mit abstrakten Dingen, mit Mustern zu tun - wie Mathematik, wie Musik», sagt er. «Man springt ständig von einer Ebene zur andern, vom Kleinen zum Grossen. Es ist die Art des Denkens, die uns unterscheidet - zum Beispiel von der von Medizinern, wo es darum geht, eine Diagnose zu stellen.» Dass die Computerwissenschaften so explodiert sind, meint er, hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass Leute, deren Denken immer schon so strukturiert war, plötzlich die Mittel in die Hand bekamen, es anzuwenden. «Wenn ich alte Arbeiten lese, die vor Hunderten von Jahren geschrieben worden sind, erkenne ich sie am Stil, diese Autoren», sagt er. «Lebten sie heute, wären sie Computerwissenschafter.»

Knuth, der das Case Institute mit summa cum laude abgeschlossen und von der Physik zur Mathematik gewechselt hatte, ging nach dem Caltech nach Stanford, wo er später den ersten Lehrstuhl für Computerwissenschaften einnahm. Edsger Dijkstra, der Lehrmeister der ersten Programmierer, war einer der wenigen, von dem er etwas hatte lernen können. Was ihn von diesem unterschied, hat Ed Schonberg, ein Schüler, so zusammengefasst: «Von Dijkstra lernten wir, was falsch und was richtig ist. Von Knuth aber, was soso lala und was wirklich toll ist.»

In den meisten Wissenschaften sind die Gründerväter längst unter der Erde. Was Darwin für die Biologie, Newton für die Physik, Euklid für die Geometrie geleistet hat, liegt Jahrhunderte zurück. Nicht so in der Computerwissenschaft. 1966, als Knuth sein Manuskript vorlegte, konnte ein Einzelner noch das gesamte Forschungsgebiet überblicken. Heute ist es wie in jedem anderen Fach auch - keiner weiss, was der Kollege tut. Ob ihn das nicht frustriert, da er sich doch vorgenommen hat, das Buch der Bücher seiner Wissenschaft zu schreiben? «Hätte ich gewusst, was auf mich zukommt, hätte ich nie angefangen», sagt er. «Und manchmal, wenn ich morgens aufstehe, kommen mir Zweifel.»

Aber wenn er sich dann an die Arbeit macht, sich an seinen Tisch unter das Poster mit den Bibelversen setzt, erzählt er, ist es immer aufregend, und nicht selten passiert es, dass er aus dem Zimmer rennt und seiner Frau zuruft, was für grossen Spass ihm das alles doch mache, entzückt, die Lösung für ein Problem gefunden zu haben. Längst hat er es aufgegeben, das gesamte Gebiet der Computerwissenschaft behandeln zu wollen. Jetzt will er sich nur noch mit dem befassen, was er als den Kern des Ganzen ansieht, mit den Fundamenten. Dass diese solide sind, ist in der Praxis da wichtig, wo es darauf ankommt, hundertprozentig fehlerfreie Programme zu schreiben - Programme, die medizinische Apparate, Raketen oder Nuklearanlagen steuern. Betaversionen kann man sich nicht leisten, keine Tests nach dem Trial-and-Error-Verfahren wie bei der Software, die unsere Kaffeemaschine, den Videorecorder oder den Heimcomputer steuert und uns mit ihren Mucken immer wieder zur Verzweiflung bringt.

Gut, dass sich andere mit solchen Dingen beschäftigen: «Es gibt mir Zeit, das zu tun, was ich am besten kann - und das sind eben die mathematischen Beweisführungen.» Er redet von der Pflicht, von seinen Talenten Gebrauch zu machen, vom Sinn der Beschränkung auf das, was ihm intellektuell Befriedigung verschafft, und vom Schicksal - dem Gefühl, das tun zu sollen, wozu Gott ihn ausersehen hat. «Ich laufe nicht herum und befasse mich mit jedem Problem, über das ich stolpere. Ich löse die, von denen ich den Eindruck habe, dafür genau der Richtige zu sein.»

Wenn andere anderes besser können, um so besser. «Es gibt Leute, die suchen nach neuen Grenzen, pflanzen die Fahnen auf», sagt er und meint, er gehöre nicht dazu. Er sieht sich als der, der das Feld bestellt und für Ordnung sorgt; eine Bescheidenheit, die dem Verfasser von dreien der bedeutendsten Algorithmen und Autor revolutionärer Programme gewiss unrecht tut. Knuths Pionierarbeit über Compiler wurde grundlegend für die weitere Entwicklung von Programmen, die zwischen Software und Maschine vermitteln, seine Forschung zur Semantik von Programmsprachen war wegweisend, moderne Tools wie Java gäbe es nicht ohne seine Vorarbeiten. Aus seiner Feder stammen CWEB - eine Software, um lesbare Programme zu schreiben - sowie Tex und Metafont, zwei Programme für digitale Typographie, die gerühmt werden für ihre Schönheit und nichts anderes zum Zweck haben als die Schönheit selbst.

Um diese beiden, seine Lieblingsprogramme, zu schreiben, hat Knuth die Arbeit an «The Art of Computer Programming» für ganze zehn Jahre liegen lassen, zehn Jahre, in denen er keine Briefe mehr beantwortete, bis er die Sache bugfree und das Ziel erreicht hatte: dass Mathematiker, Wissenschafter, Musiker und wer auch immer Sonderzeichen benötigt, um seine Manuskripte auf dem Computer zu schreiben, diese in typographisch ansprechender Form zur Verfügung haben. Er konnte es nicht ertragen, seine Bücher in dem scheusslichen Computersatz, der den Bleisatz ablöste, drucken zu lassen; lieber hörte er auf zu schreiben. Dank Knuth weist nun das griechische Delta die richtige Krümmung auf, kann jede chemische Bindung korrekt geschrieben und selbst ein gregorianischer Choral in zeitgenössischer Schrift notiert werden. Wie alles, machte er auch dies mit der ihm eigenen Gründlichkeit, schrieb eine Arbeit allein über den Buchstaben S, in welcher er dessen sich durch die Jahrhunderte verändernde Gestalt mathematisch zu erfassen suchte; mehrere Tage, sagt er, habe es ihn gekostet, die Formel zu finden, die dem Buchstaben den angemessenen Schwung gibt.

Tex, das Programm, das die Typen auf der Seite positioniert, und Metafont, das ihre Gestalt definiert, können heute als freeware gratis vom Netz heruntergeladen werden. Zwei tschechische Astronomen, denen es endlich glückte, ihre wissenschaftlichen Arbeiten in sauberer Form niederzuschreiben, waren dafür so dankbar, dass sie den von ihnen entdeckten Kleinplaneten Nr. 21656 nach Knuth benannten. «Knuth» misst knapp fünf Kilometer im Durchmesser und befindet sich, wo das Geistige herstammt - im Sternbild Aquarius.

Programmieren, sagt Knuth, sei für ihn eine Form, Kunst zu machen, und er möchte, dass man seine Programme liest wie ein gutes Buch - bezaubert von der Schönheit und der Eleganz, mit der die Botschaft vermittelt wird. Als er 1958 Stan Poleys SOAP-Assembler-Programm studierte, war es um ihn geschehen gewesen; da war ein Autor am Werk mit einer Handschrift und einem Stil, der ihn begeisterte. Auch er wollte Autor werden, ein Leseerlebnis vermitteln, Programmzeilen schreiben, an denen es nichts mehr zu verbessern gibt. In seinem berühmten Essay über «Computer Programming as an Art» von 1974 meinte er, es müsste eigentlich auch, wie in der Literatur, Kritiker geben, die das zu würdigen und Pfusch zu verreissen wüssten.

Jede Woche verfasst er ein kleines Programm. «Es ist wie Gedichte schreiben: Ich wache auf, und die Zeilen fliegen mir zu», sagt er. «Und wenn ich dann daran herumfeile und es mir gelingt, eine Zeile zu verbessern, bin ich überglücklich.» Er lacht immer ein bisschen, wenn er solches erzählt, als machte es ihn verlegen, vom Kuss der Muse und vom Glück, das er dabei empfindet, zu reden. Eine besondere Befriedigung verschafft es ihm, etwas mit beschränkten Mitteln zu erreichen. Einen Compiler zu schreiben für einen primitiven Minicomputer mit nur 4096 Wörtern Memory, 16 Bits pro Wort, hat ihm das allergrösste Vergnügen bereitet. Georges Perec ist sein Lieblingsautor; einen Roman zu verfassen, in dem der Buchstabe «e» nicht vorkommt, sieht er als Herausforderung für einen Künstler, alle seine Kräfte zu erproben. (Er hat selber einen mathematischen Roman verfasst, «Surreal Numbers».) «Als ich Programmieren lernte, konnte man sich glücklich schätzen, wenn man fünf Minuten pro Tag an die Maschine durfte. Und wenn man wollte, dass das Programm lief, musste man es eben richtig schreiben», erzählt er. «Programmieren war, wie in Stein zu meisseln.» Teure Computerzeit und kleine Speicher zwangen zur Ökonomie - und damit letztlich zu etwas, dem auch grosse Kunst verpflichtet ist: mit wenig Mitteln viel zu erreichen.

Es hat ihn zum Perfektionisten gemacht, und der Satz, der unter einem seiner Programme steht, ist in Computerkreisen zum geflügelten Wort geworden - gerade weil er, Knuth, wohl der Einzige ist, der solches von sich behaupten kann: «Beware of bugs in the above code; I have only proved it correct, not tried it.»

Er zahlt jedem, der einen Fehler in irgendeinem seiner neunzehn Bücher findet, 2 Dollar und 56 Cent und 327 Dollar und 68 Cent für jeden entdeckten Fehler in den Programmen Tex oder Metafont. Eine Liste der Errata findet sich auf seiner Homepage, und für Fehlermeldungen hat er sogar eine E-Mail-Adresse eingerichtet, knuth-bug@stanford.edu, die für andere Zwecke zu missbrauchen er eindringlich warnt. Antwort, verspricht er, erhält man innert sechs Monaten.

Wie in jeder Kunst ist auch in der seinen das Werk grösser als sein Schöpfer, dessen Scheitern programmiert. «Kunst kommt aus dem, was wir nicht verstehen», sagt Knuth, «und sie unterscheidet sich von der Wissenschaft darin, dass wir sie einen Computer nicht lehren können. Wir wissen zum Beispiel eine ganze Menge darüber, warum Mozart so schön klingt, kennen die Harmonien, die ganze Musiktheorie - und doch: Erst wenn wir versuchen, einen Computer dazu zu bringen, solche Musik zu komponieren, merken wir, wie unvollständig diese Regeln sind.» Im Misslingen liegt der Reiz - ein Test darüber, was man wirklich weiss. Für Knuth ist es keine Frage, dass das Wissen um solche Dinge fortschreiten, die Wissenschaft sich Terrain erobern wird, das man ihr heute noch verschlossen glaubt. Aber ebenso scheint ihm klar, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die der Verstand nie begreifen wird, und im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen ist er ganz zufrieden damit.

«Ich schätze die Tatsache, dass es Geheimnisse gibt, und ich wäre unglücklich in einer Welt, in der man alles beweisen kann», sagt er. «Aber ich möchte auch nicht in einer Welt leben, in der man nichts beweisen kann. Das ist der Grund, weshalb ich Mathematiker, Computerwissenschafter bin. Es gibt etwas in meinem Leben, über das ich genau Bescheid weiss, Probleme, von denen ich mir sicher bin, dass sie eine Lösung haben. Wäre ich Astronom, müsste ich sterben, ohne je zu erfahren, ob das alles auch richtig ist, was ich geforscht habe. Das würde ich nicht aushalten.»

Das Streben und die Suche sind es, was uns zu Menschen macht. «Vielleicht wollte Gott deshalb, dass die Bibel mehrdeutig ist», sagt er, «und hat sie uns zu einem Zeitpunkt geschenkt, bevor wir die modernen Technologien hatten. Hätten wir Jesus auf Video, was bliebe unserer Vorstellungskraft übrig? Dem Nachdenken, dem Ringen um die Wahrheit?»

In Kalifornien, wo die Träume von der künstlichen Intelligenz geträumt werden und wo Computerwissenschafter sich nach ihrem Tod tiefgefrieren lassen, um dereinst, wenn die Medizin so weit ist, in jugendlicher Frische aufzuerstehen, ist solche Zurückhaltung nicht eben verbreitet. Die Hybris liegt im Beruf - der Mensch an der Maschine, Schöpfer eines Universums, über das er Macht hat.

Was Knuth hingegen mit anderen Computerwissenschaftern teilt, ist die Liebe zur Musik. Saxophonist und Tubaspieler in der Highschool-Band, hatte er mit einer professionellen Musikerkarriere geliebäugelt. Als er es sich leisten konnte, hat er sich in seinem Heim in Palo Alto eine ausgewachsene Orgel einbauen lassen, von Abbott und Sieker, L. A., nachdem er mehr als ein Dutzend Orgelbauer in Europa und den USA besucht und ihre Instrumente geprüft hatte. «Opus 67», gestimmt auf norddeutschen Barock, hat 812 Pfeifen in 16 Registern und ein Gebläse von Meidinger aus der Schweiz, das er seiner Geräuschlosigkeit wegen wählte. Im zweistöckigen Raum, in dem das Instrument thront, stehen auch ein Bösendorfer-Konzertflügel und das Monarch-Piano, das Don von seinem Vater geerbt hat, der Kirchenorganist und Lehrer an einer Lutheranerschule war. Knuths Liebe zur Musik geht so weit, dass, wer mit ihm vierhändig spielen kann und exotische Notenliteratur mitbringt, eingeladen ist, ihn für eine Jam-Session in seinem Klosterleben zu stören.

Manchmal spielt er am Sonntag in der kleinen Kirche von Pastor Segerhammar. Es wird viel gesungen in der Gemeinde, die sehr auf Liberalität hält. Lesben und Schwule sind willkommen, und Pastor Segerhammar, ein Sportstyp, drückt sogar ein Auge zu, wenn sein prominentestes Gemeindemitglied seinen Gott auch in anderen Religionen am Werk und «christliche Werte» in fremden Kulturen findet. Lutheraner zu sein, heisst für Knuth, von seinem Verstand auch in Glaubensfragen Gebrauch zu machen. Die Einstellung hat er vom Elternhaus, das durchdrungen war vom Glauben an die frohe Botschaft und, wie er sagt, frei von Hypokrisie und moralischem Druck. Die einzige religiöse Enttäuschung, an die er sich erinnern kann, war, als er als Junge nach dem Besuch eines Jahrmarkts das Riesenrad, das er sich vom lieben Gott wünschte, am anderen Morgen nicht im Garten vorfand.

Den Dingen auf den Grund gehen will er auch in religiösen Fragen. Sein Sabbatical in Boston, das er seiner Frau zum fünfundzwanzigsten Hochzeitstag schenkte, indem er ihr versprach, ein Jahr lang die Einkäufe zu besorgen, zu putzen und zu kochen, nutzte er zur Niederschrift eines theologischen Buches, mit dessen Vorarbeiten er Jahre zuvor begonnen hatte. Er wollte Techniken, die er verwendete, um grosse Computerprogramme zu studieren, auf die Bibel anwenden.

Was die Mathematiker als «Randomization» bezeichnen, wurde zum «3:16 Project» - einer «Grand Tour» durch die Heilige Schrift, deren Stationen der jeweils sechzehnte Vers des dritten Kapitels eines jeden der biblischen Bücher war, eine Reise von der Genesis bis zur Offenbarung. Dazu hatte er, wie er sagt, Tausende von Büchern durchstöbert mit den Kommentaren von protestantischen, katholischen und jüdischen Theologen aller Richtungen und Zeiten und darüber hinaus die Verse selbst mit Hilfe von Wörterbüchern aus dem Hebräischen und Griechischen übersetzt. Der Gedanke, an zufällig ausgewählten Stellen in die Tiefe zu bohren, statt ausgedehnte Passagen mit vereinzelten Kommentaren zu lesen, erwies sich als fruchtbar. «Man bekommt ein ziemlich ausgewogenes Bild vom Ganzen, wenn man sich Stichproben genau ansieht.» Mit Numerologie hat das nichts zu schaffen. «Ich wollte nur dafür sorgen, systematisch unvoreingenommen zu sein», sagt er und weist darauf hin, dass man mit ein bisschen Zahlenzauber aus der Offenbarung des Johannes ohne weiteres einen versteckten Hinweis auf Bill Gates lesen kann. Sein Buch liess Knuth von Kalligraphen aus der ganzen Welt illustrieren; die Originale sind in der Harrison Collection of Calligraphy in der Public Library von San Francisco zu sehen.

Die Kollegen waren, obschon er seinen Glauben nicht auf der Zunge trägt, etwas irritiert über seine Beschäftigung, zumal es damals, in den achtziger Jahren, ganz in Ordnung war, religiös zu sein, wenn man Jude oder irgendeines anderen Glaubens, nicht aber, wenn man Christ war. Als Pastor Segerhammar ihm dann die Kanzel überliess, als Maleachi 3,16 auf dem Predigtprogramm stand, nutzte der Herr Professor die Gunst und las fast eine geschlagene Stunde über seine Funde. Was dem Pastor dann weniger des Inhalts als der Geduld seiner Gemeinde wegen Sorgen machte.
Man sieht ihm den workaholic nicht an, wenn er, seine nicht viel mehr als halb so grosse Frau Jill an der Seite, nach dem Abendmahl im Vorraum der Kirche mit den anderen Gemeindemitgliedern plaudert, Kaffee trinkt und Kuchen isst. Ein Smørgasbord steht auf dem Programm; es ist Santa-Lucia-Fest, ein schwedischer Brauch, der an die Christenverfolgungen zur Römerzeit erinnert.

Lucia, gespielt vom ältesten Mädchen, trägt eine Kerzenkrone, «Starboys» und «Gingerbread Children» im Gefolge, und Donald Knuth steht in der Kirchenbank und singt aus voller Kehle mit, als ob er nichts im Leben lieber tun würde. Dann, wie er den Löffel in den Reispudding steckt, der im Anschluss an die Feier gereicht wird, meint er plötzlich: «Ich muss unbedingt versuchen, musikalische Haikus zu komponieren. Sie kennen die Harmonienfolge?»

Und fährt den Gast, der überzeugt ist, einen glücklichen Menschen getroffen zu haben, in seinem alten rostroten Volvo Kombi zum Hotel.


Peter Haffner ist Redaktor bei NZZ Folio.

Illustrationen: Max Grüter, Zürich.



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